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Letzter Tag: Görlitz

 2021 06 25 Tag 17 letzter Tag

In Görlitz hat alles begonnen, in Görlitz soll es enden. Nachdem ich 3 Wochen durch den Landkreis Görlitz gefahren bin, geht heute meine Blogger-Tour durchs #Unbezahlbarland hier zu Ende. Es ist ein bisschen wie mit der Liebe. Warum fällt sie irgendwo hin und woanders nicht? Es ist und bleibt ein Mysterium. Mein Herz gehört Görlitz. Es war Liebe auf den ersten Blick aber auch beim zweiten oder dritten Hinschauen – ich bleibe Fan dieser Stadt. 

Das soll nicht missverstanden werden, denn ich habe in 3 Wochen Oberlausitz ausschließlich positive Erfahrungen mit der ganzen Region gemacht. Na, obwohl eine kleine Ausnahme gab es: einen Strafzettel der Polizei Görlitz. Wenn meine 50 € Strafe dem Strukturwandel hilft, dann bitte gerne. 

Die Rückmeldung der Oberlausitzer war überragend. Ich habe Macher kennengelernt, Unternehmer die verändern wollen, die Weite der Natur, staufreies Fahren, viele Badeseen und extrem offene Menschen. Die Menschen haben mich am meisten überrascht. Unverstellt mit offenem Visier. Ungefragt habe ich Familiengeschichten erzählt bekommen, bin auf Grillabende und Geburtstagspartys eingeladen worden und hatte nie den Eindruck ein Fremder zu sein. 

Ich habe mich an „Nu!“ und „Fetzt!“ gewöhnt und war immer wieder erstaunt darüber, wie direkt Menschen von sich und ihrem Leben erzählen. Das ist es, was mich mit am meisten begeistert hat. Hier leben Menschen, die sehr genau wissen, was die Landschaft kann und was die Vorzüge der Region sind. 

Ich könnte mir vorstellen, dass das auch viel mit dem Schock der Wende zu tun hat. Sehr oft habe ich den Satz gehört: „Meine Eltern waren mit der Wende von heute auf morgen arbeitslos.“ Das hat die nächste Oberlausitz Generation mitgeprägt.  Eine Generation, die weiß wie sich Verlust und Ohnmacht anfühlen und die daraus eine unglaubliche Energie entwickelt hat. Eine Power, die diese Region nach vorne spülen kann. 

Aus diesem Grund sehe ich auch durchaus optimistisch in die Zukunft des Standortes. Platt ausgedrückt: der Westen ist satt, der Osten ist hungrig.  Hier hat es Platz, viel Raum für Neues. Das ist eine riesige Chance. Die Zentrale im Dreiländereck, das Herz von Europa. Das größte Kapital sind die jungen Menschen und viele sagen: „Wir sind hier aufgewachsen, in die Welt gezogen und kommen jetzt wieder zurück!“ 

Der Strukturwandel ist ein großes Wort, welcher viel beinhaltet. Ausstieg aus dem Kohleabbau, Mangel an  jungen qualifizierten Arbeitskräften, eine alternde Gesellschaft und die Transformation von der Industrialisierung zur Digitalisierung.  Das ist kein exklusives Problem der Niederschlesischen Lausitz, das gilt bundesweit.

Meine Heimat Stuttgart hängt von Mercedes-Benz, Porsche oder Bosch und deren Zulieferern ab. Aber bloß weil das Automobil in Stuttgart erfunden wurde, heißt das noch lange nicht, dass die Schwaben das Patentrecht auf den Autobau der Zukunft haben.  Was wenn das Auto von morgen künftig von Tesla, Google & Co. gebaut wird? Was wenn der Stellenwert des Automobils weiter sinkt? Ich möchte damit sagen, die Veränderung, die in der Oberlausitz jetzt stattfindet, steht anderen Regionen vermutlich noch bevor. 

Die Oberlausitz hat das längst begriffen. Hier gibt es die Pötzschs, die Jakschiks, die Kratzschs oder die Winneknechts, um nur ein paar zu nennen, die sich bewusst für die Region entschieden haben. Unternehmertypen, die anpacken. Der Weg wird sicher kein leichter sein, aber wenn keiner den Anfang macht, wird sich nichts verändern. 

Dazu gehört auch Demut und Wertschätzung. Beeindruckend war die Lebensgeschichte von Ejad Al Hajabd, der als Hochzeitsschneider ein florierendes Geschäft in Damaskus hatte. Dann 2015 fliehen muss, alles verliert, in Rekordzeit Deutsch lernt und mit 4 Kindern ein neues Leben beginnt.  Er näht heute Zelte bei DWT. Handwerklich kann dieser Mann bestimmt viel mehr, aber er macht es hingebungsvoll und voller Dankbarkeit. Genauso beeindruckt war ich vom OB von Weißwasser, Torsten Pötzsch. Ein sanftmütiger Löwe, der um seine Heimat kämpft.  Nirgendswo auf der Tour ist mir das Thema „Strukturwandel“ derart brutal vor Augen geführt und damit bewusst geworden. 

So drehe ich eine letzte Runde auf dem Doppeldecker „Görliwood Entdecker“ durch „mein“ Görlitz. Ich beobachte andere Touristen, wie sie Fotos machen. Ich mache schon lange keine Fotos mehr, ich habe das Gefühl diese Stadt zu kennen. Ihr Kopfsteinpflaster, ihre kleinen Gassen, die großen Plätze und die vielen Drehorte der Hollywoodproduktionen. Als ich kam war die Oberlausitz mein blinder Fleck auf der Deutschlandkarte. Der ist jetzt weg. Ich werde die Region im Auge behalten. Im Herzen trage ich sie jetzt ohnehin. 

2021 06 25 Finale Collage

Tag 16: Hochschule Zittau/Görlitz

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Sie steht vor uns. THERESA. Groß gebaut, aber als schlank kann man die Dame nicht gerade bezeichnen.  Ob sie schön ist? Geschmacksache.  Schönheit liegt immer im Auge des Betrachters. THERESA – die „THERmischeEnergieSpeicherAnlage“ steht im Kraftwerkslabor der Stadtwerke Zittau GmbH. Sie ist damit eine von insgesamt drei Großversuchsanlagen der Hochschule Zittau/Görlitz in der denkmalgeschützten Halle. Alte Hülle, modernste Verfahrenstechnik. 

„Wir haben mehr Wärme- als Energiebedarf in Deutschland.“ Erklärt Prof. Dr. Alexander Kratzsch, Rektor der Hochschule Zittau/Görlitz. „Wir forschen hier mit THERESA beispielsweise an Wasser als Wärmeträger.“ Hochschulrektor oder Professor klingt immer ein bisschen angestaubt und so stellt man sich auch gerne die Personen dahinter vor. Alexander Kratzsch ist das komplette Gegenteil. Man sieht ihm weder den Rektor noch den Professor an, aber der klare Blick und der noch klarere Verstand sprechen für sich. 

Mit „Sie müssen sich vorstellen“ beginnen seine Sätze gerne, um dann präzise auf den Punkt zu kommen. „Wasser und Stahl kann die Region, das ist gelernt. Nur logisch, dass wir heute das Kompetenzfeld Energie und Umwelt in Lehre und Forschung an der Hochschule Zittau/Görlitz haben.“ 

Vor der Wende kamen die Experten für Energie aus Zittau, nach dem deutschen Ur-Knall saßen eben diese Experten in sämtlichen Kernkraftwerken des Westens. Nur heute muss keiner mehr weg. Wer heute noch was bewegen will, der kommt in den Osten.

Der Hochschul-Doppelstandort Zittau/Görlitz bedient nicht nur technisch-wissenschaftliche Studienfelder, sondern auch Geisteswissenschaften. Knapp 3.000 Studierende und rund 500 Mitarbeitende beschäftigt die Hochschule. Laut einer Studie sind die Oberlausitzer die heimatverbundensten Menschen Deutschlands. Das gilt auch für die wissenschaftlichen Mitarbeitenden Annett und Lukas, die in der „LaNDER3halle“(Lausitzer Naturverbundwerkstoffe Dezentrale Energie Rohstoffe, Ressourcen, Recycling) stehen. 

Zwei Kinder der Region, die sich für nachhaltige Energiegewinnung und ressourcenschonende Prozesse interessieren.  In der Halle, ein nachhaltiger Bau versteht sich, geht es um die 3 großen „R“ unserer Zeit: Rohstoffe, Ressourcen und Recycling. Hier wird daran geforscht, wie und wo man Glasfasern in Plastik mit Naturfasern ersetzen könnte. Das geht grob vereinfacht so:  Man nimmt einen nachwachsenden, pflanzlichen Rohstoff. Zum Beispiel Bananen. Aus den herausgelösten Schalenfasern wird mittels unterschiedlicher Verfahren eine Biomasse hergestellt. Am Ende dieser Nutzungsdauer dieses „Naturplastiks“ verarbeitet eine Pilzkultur  Teile der Reste.  Es ist eine geschlossene Wertschöpfungskette von Naturfaserverbundstoffen. Man lebt und produziert auf dem Industrieniveau des 21. Jahrhunderts mit dem, was die Natur hergibt. 

„Sie müssen sich vorstellen, seit einigen Jahren werden Prozesse von hinten her gedacht.“, ergänzt Rektor Kratzsch. „Made in Sachsen, exportiert in die Welt“ schiebt er lachend hinterher. „Und wenn eine(r) unbedingt weg möchte, wir haben Partnerhochschulen weltweit.“ 

Neben ihm steht der junge Dr. Ing. Rafael Cavalcante Cordeiro. „Ich komme aus Rio de Janeiro, aber ich möchte nicht mehr nach Brasilien zurück. Ich habe hier einen tollen Job, herrliche Landschaft, keine Kriminalität und ein familiäres Umfeld.“, sagt er in perfektem Deutsch. Ich denke an Salsa, Caipirinha und Copacabana und suche die Ironie in seiner Stimme. Rafa lächelt, er meint es ernst. Zittau sei seine Zukunft. 

Tag 14: Weißwasser mit Oberbürgermeister Torsten Pötzsch

2021 06 22 Tag14 WSW Beitrag 3
Wir stehen auf dem Aussichtsturm Weißwasser Oberlausitz, direkt hinter der Stadtgrenze und blicken auf eine Mondlandschaft. Rechts der aktive Tagebau, links die „renaturierte“ Zone, in der Ferne steht die weiße Rauchfahne des Kohlekraftwerks Boxdorf in der Luft. Das also ist der Preis für unseren Energiehunger. Man versteht, warum Naturschützer auf die Barrikaden gehen. Es ist beschämend, was der Mensch hier mit der Natur gemacht hat. Das ist die eine Seite der Medaille. 

Die andere Seite sieht man, wenn man sich auf dem Turm um 180 Grad dreht und auf Weißwasser blickt.  Rund 3.000 Jobs der 16.000 Einwohner zählenden Stadt hängen direkt an der Kohle. An den Jobs hängen Familien und deren Existenz.  Obendrein gilt der Landkreis ohnehin als der Einkommensschwächste von ganz Deutschland.  Es braucht jeden Job. 
Der Kohleausstieg ist vom Bund beschlossene Sache. Dafür werden rund 40 Milliarden € per  Strukturstärkungsgesetz zur Verfügung gestellt. Und hier beginnt das Problem. Der Kampf um die Fleischtöpfe führt dazu, dass sich die Kommunen und Gemeinden untereinander gegenseitig die Mittel abgraben. „Das meiste Geld fließt nach Görlitz“ hadert Torsten Pötzsch mit der Verteilung der Gelder. Der Oberbürgermeister  strahlt eine sehr angenehme Ruhe und Zuversicht aus. Man merkt schnell, dieser Mann hat einiges erlebt, den haut so schnell nichts um. „Alle sollen partizipieren, aber die Stadt Weißwasser hat mit am meisten geblutet.“ Es braucht einen Druckverband, kein Trostpflaster um die Wunde zu schließen. 

Er nimmt uns mit in die Stadt und erklärt das zersiedelte Stadtbild. „Weißwasser war vor der Wende ein florierender Industriestandort. Anfang des 20. Jahrhunderts größter Glasproduzent der Welt. 11 Glashütten standen hier. Dann kam die Wende. „Die jungen intelligenten Frauen sind gegangen, die dummen Männer geblieben“ sagt er überspitzt und lacht. Die wilde Lockenmähne tanzt um sein Gesicht.  
Aus 35.000 Einwohnern wurden im Laufe der Jahrzehnte die heutigen 16.000.  Leerstehende Gebäude wurden abgerissen oder vergammelten im Stadtbild. Die Glashütten wurden teilweise von der Konkurrenz übernommen oder kaputt gewirtschaftet. Das war der schleichende Niedergang nach der Wende und jetzt kommt mit dem Kohleausstieg der nächste Hammer für eine Stadt, die ohnehin schon am Boden liegt.  Man könnte sich jetzt in sein Schicksal ergeben, und sagen: Gut, der Letzte macht das Licht aus. Nicht aber mit Torsten Pötzsch. Weißwasser hat einen Oberbürgermeister, der um jeden Euro Finanzierung, jeden Einwohner und jeden Job persönlich kämpft.

2021 06 22 Tag14 WSW Beitrag 1

Wir bekommen eine exklusive VIP Tour mit OB Pötzsch durch Weißwasser. Wir betreten die relativ neue Eishalle der Lausitzer Füchse, früher 25-maliger DDR Meister. „Haben wir sogar billiger gebaut, als geplant“ merkt er bescheiden an. Vom Auto aus grüßt er während der Fahrt nach links und nach rechts. Er scheint jeden zu kennen. „Diese Nacht konnte ich wegen der Hitze nicht schlafen, dann habe ich auf Social Media Fragen der BügerInnen beantwortet. Übrigens, gibt es auch die OB-Gerüchteküche, da stehe ich den Menschen persönlich Rede und Antwort“ – sogar das ZDF hat schon berichtet.  Schlagzeile hat er aber mit einer anderen Aussage gemacht: „Ich besorge jedem, der nach Weißwasser zieht, einen Job!“ Im Supermarkt habe ihn dann mal eine Dame angesprochen, sie sei Politologin. Was er denn für sie tun könne? Pötzsch zieht ein paar Strippen, telefoniert mit alten Freunden. Die junge Dame sitzt heute für den Landkreis im Bundestag. Es gibt viele Menschen, die auffallen wollen um jeden Preis. Als wäre Aufmerksamkeit eine Währung. Torsten scheint dagegen immun. Man kauft es ihm ab, wenn er sagt: „Ich habe zwei kleine Kinder, für die mache ich das. Ich möchte nicht von ihnen später zu hören bekommen: Warum hast du nichts gegen den Verfall getan?!“

Dieser OB hat eine Mission. Er kämpft für Schulen, Kindergärten sowie Aus-und Weiterbildungszentren die den Standort Weißwasser wieder attraktiv machen. Neben Arbeitsplätzen braucht es diese „weichen“ Faktoren, die eine Stadt lebenswert machen.  Aus Alt mach Neu, ohne Alt komplett unter den Teppich zu kehren. Das ehemalige Telux Fabrikgelände ist ein Paradebeispiel dafür wie Pötzsch sich das in Zukunft vorstellt. In den alten Fabrikmauern siedeln sich kreative sozio-kulturelle Geschäftsmodelle an. Kristine, Tunnel im Ohr und Konterfei der Oma auf den Oberschenkel tätowiert ist Mediendesignerin. Typ Berliner Hippsterin, kommt aber aus Zwickau und verwirklicht sich hier mit ihrem Mann René. Der ist Graffiti-Künstler und macht nebenbei in Holz, heraus kommt dabei das Label: „It-Wood-be-nice“.  

2021 06 22 Tag14 WSW Beitrag 2

Nebenan liegt die Bar/Café Hafenstube im Industrie-Chic mit Räumen für Konzerte und Veranstaltungen. Pötzsch zeigt uns die Bäder: „Das sind Designerwaschbecken, B-Ware, sieht man aber keinen Fehler dran, hat ein uns ein befreundeter Sanitärmann geschenkt.“ In einer anderen Halle werkelt ein Holzkünstler. „Der hat sein Haus im Umland verkauft und lebt und arbeitet jetzt hier auf dem Gelände mit seiner Familie.“ Wir rollen über das weitläufige Areal. „Da vorne soll noch ein Pool hin und hier möchte ich eine Outdoor-Bühne stehen sehen“. Torsten schwärmt.  Und man kann es ihm nicht verdenken, das Potential dieser alten Fabrikanlagen ist riesig. Aus Alt mach Neu. Eine andere Chance hat Weißwasser vermutlich auch gar nicht, aber mit Torsten Pötzsch einen Mann im Rathaus, der sich beharrlich für seine Heimat einsetzt. 

Tag 15: Fit GmbH Hirschfelde

 2021 06 23 Fit Beitrag

„Jeder dritte deutsche Haushalt kauft mindestens 1x pro Jahr eines unserer Produkte.“ begrüßt uns Markus Jahnke, der Marketing Leiter auf dem Gelände der Fit GmbH in Hirschfelde.  97% der Ostdeutschen ist vermutlich nicht Markus Jahnke, aber die Marke Fit ein Begriff. Es ist eine ostdeutsche Institution, das „Tempo“ des Ostens. 

Hinter Marktführer Pril ist Fit die Nr. 2 in Deutschland. Die Produktpalette umfasst heute 350-400 verschiedene Artikel. Vom Desinfektionsmittel, über Handseife bis hin zum Spülmittel. Wo beispielsweise „Kuschelweich“ draufsteht, ist Fit drin. Diversität im Produktportfolio hat die 1954 gegründete Firma „Fit ohne Abzutrocknen“ auf äußerst gesunde Füße gestellt. 

Das war nicht immer so. Wir laufen zum Produktionsgebäude. Markus zeigt auf eine angebrachte Tafel vom August 2010. Sie hängt auf ca. 1m Höhe.   „Bis hier stand damals das Hochwasser auf dem gesamten Gelände. Die Keller waren so vollgelaufen, dass es unsere halbleeren Tanks aus der Bodenverankerung gerissen und an die Decke gedrückt hat, dort wurden sie zerquetscht wie Cola Dosen.“ Der zweistellige Millionenschaden hätte das Unternehmen fast in die Insolvenz getrieben. 

Wir stehen an der Produktionslinie. Tausende der kleinen bekannten Fit Fläschchen rasen an uns vorbei. „Die Firma Fit ist übrigens erst 1968 nach Hirschfelde gezogen, eigentlich ist es ein Chemnitzer Unternehmen, daher auch die markante Form unserer Spülflaschen. Das ist eine Anlehnung an den roten Turm von Chemnitz.“ Erklärt er uns über das Rattern der Anlagen hinweg. 

Vollautomatisiert fliegen die Fläschchen an uns vorüber. Alleine 25 Millionen der Fit Flaschen laufen hier pro Jahr durch. Ich bleibe vor der Glastür einer Abfüllanlage stehen und öffne diese, um einen spiegelfreies Foto schießen zu können.  Die komplette Robotik kommt sofort zum Stehen.  Es dauert einige Sekunden bis ein Mitarbeitender die Anlage wieder neu startet. 

Ich bitte um Entschuldigung, aber für das Jahr 2021 wird die Produktion damit wohl auf geschätzte 24.999.912 Fit Flaschen korrigiert werden müssen.  Ich hoffe sehr, dass das Unternehmen meinen unbeabsichtigten „Eingriff“ wirtschaftlich übersteht. 

„Wir sind in den letzten Jahren stetig gewachsen“, beruhigt mich Markus ungefragt. „Gerade das Corona-Jahr 2020 hat uns einen Absatzschub beschert. Die Menschen waren zu Hause, also wurden mehr Spül-und Putzmittel verbraucht wie je zuvor.“

Das Firmenareal ist geradezu grotesk groß. Mehrere freie Grünflächen würden theoretisch Platz für weiteres Wachstum bieten. Am Rande des kleinen Hirschfelde steht hier einer der Marktführer deutscher Spülmittelhersteller. Arbeitgeber von über 250 Menschen, mit Luft nach oben. Der tägliche Griff zum Spülmittel sollte uns daran erinnern. Man kann in der Oberlausitz sehr gut arbeiten und leben. 

Tag 13: Die geheime Welt von Turisede mit Schlauchboottour auf der Neisse

2021 06 21 Tag 13 Turisede Neisse Beitrag 1
Tag 13: Die geheime Welt von Turisede mit Schlauchboottour auf der Neisse

- so könnte man diesen Blogbeitrag überschreiben. Oder die Schlagzeile könnte auch lauten:  Gebrauchsanleitung für total erschöpfte- aber glückliche Kinder. 

Wer selber kleine Kinder hat, der weiß wie erholsam es sein kann, wenn die kleinen Energiebündel völlig ausgepowert – ohne große Diskussionen – abends quasi von selber zeitig ins Bett fallen.  Hier ein Vorschlag, wie so ein Tag aussehen könnte. 

9 Uhr, Bahnbrücke Zentendorf. Das Thermometer zeigt bereits jetzt sportliche 28 Grad. Die angegebenen 200 m Fußweg zur Einstiegsstelle für die Schlauchbootstour auf der Neiße entpuppen sich als rund 700 m. Aber die Moral in der Truppe ist noch gut. Weder die 5-jährige Amelie, noch der 3-jährige Johann stören sich am kurzen Spaziergang. 

Bis zu 6 Personen gehen in ein Schlauchboot. Wir sind zu fünft. Drei Erwachsene und zwei Kinder. Nachdem man ihnen sämtliche „Warum-Fragen“ zu Boot, Wasser & Fauna beantwortet hat kehrt vorerst Entspannung ein. Träge treibend schiebt uns die Neiße gen Rothenburg.  Die üblichen „Ich habe Hunger/ Ich will was trinken/ Ich muss Pipi“ Angriffe kann man als gut vorbereitete Erziehungsberechtigte, noch locker parieren.  Da ahnt auch keiner wie lange sich die 3 Stunden Tour noch ziehen wird. 

Die Sonne brennt unbarmherzig. Schatten Fehlanzeige. Sonnenhüte & Sonnencreme werden erneut rumgereicht.  Das erste „Ich will auf den Spielplatz“ wird mit einem ersten Badestopp vergessen gemacht. Auf einer Art Kiesbank mit knietiefem Wasser stoppen wir das Boot. Alle Mann & Frau in die Neiße. Die Kids sind happy, und machen erst mal Pipi unter Beachtung der goldenen Regel: Nie GEGEN die Strömung zu pinkeln. Die Wasserqualität liegt in der Regel bei einer guten Zwei minus, danach für einen kurzen Moment bei einer 2-3. Alles aber immer noch im grünen Bereich. 

Abgekühlt und neu motiviert treiben wir weiter. Gerade als wieder Langeweile aufkommen will, steuern wir auf einen „gewaltigen Abgrund“ zu. Die erste Stromschnelle des Tages. Wildes  Gekreische und das obligatorische „Nochmal“ der Kinder. Es kommen ja noch weitere auf dem Weg. Die Stimmung im Schlauchboot ist intakt. Alle Selfies, Kurzvideos und Fotos sind inzwischen gemacht. 

Wir sind komplett alleine auf der Neiße. An den heißen Sommerwochenenden treiben bis zu 70 Boote von Neiße Tours Macher Tino Kittner auf dieser deutsch-polnischen Grenze. „Das verteilt sich schnell, eng wird es nie“ wird er uns im Anschluss dazu sagen. 

Auf der linken Seite taucht ein Piratenschiff auf, rechter Hand steht eine Art Wachturm, vor uns treibt an einer Pontonbrücke befestigt das Neiße Café von Turisede. Wir paddeln gemächlich an der Kulturinsel Einsiedel vorbei. Die Spielplatzrufe der Kinder werden wieder drängender. Mit ein paar Gummibärchen wird eine mögliche Meuterei auf dem Schlauchboot abgewehrt. Die drei Kapitäne haben die 2-köpfige Mannschaft noch im Griff. 

Trotz Sonnenhut, Sonnencreme und erneutem Badestopp bleibt die Sonne unbarmherzig. Wir knacken die 30 Grad Marke, und laut Karte müssten wir eigentlich bald am Ziel sein. Auch in der Führungsetage der Schiffsbesatzung wird es langsam weniger mit der Moral. Vor uns taucht das Wehr von Nieder-Neundorf auf. Anlanden, aussteigen, Boot ums Wehr rumtragen alle wieder einsteigen.  Die noch sehr junge Crew fängt an erstmals zu protestieren. „Ich will nicht mehr Boot fahren.“ „Ich habe Hunger.“ 

Alle Eltern kennen das. Es beginnt das Ablenkungsmanöver um Zeit zu schinden. „Boooh, guckt mal da fliegt ein Fischreiher! Da oben, da kreist ein Milan, hier im Schilf das ist eine singende Rohrdommel!“ Gewisse Kenntnisse der lokalen Tierwelt sind hier sicherlich von Vorteil, aber nicht zwingend notwendig. Eine salopp dahin geworfenes: „Ob es hier Haie gibt?!“ samt anschließender Diskussion macht wieder 15-20 Minuten gut. 

Aber die stechende Sonne schafft auch die Erwachsenen. Das Trinkwasser geht dem Ende zu, die Lust ebenfalls und inzwischen haben alle im Boot Hunger. Es ist jetzt 12 Uhr mittags. Der Ton an Bord wird „rauher“. „Setz dich jetzt hin!“ Nein, die Schwimmweste bleibt an!“ „Wir sind ja gleich da.“ Die Entspannung kippt schleichend zur Anspannung.  Nach 3 Stunden kommt die 5-köpfige Neisse Tour Crew zufrieden, aber abgekämpft an. 

Bei Tino gibt es Softdrinks, Snacks und endlich Schatten. 

2021 06 21 Tag 13 Turisede Neisse Beitrag 2

Vor allem die brennende Sonne hat müde gemacht, aber die Kinder konnten sich auf dem Boot nicht besonders viel bewegen- die Energie muss raus. Mit „Auf zum Spielplatz“-Gebrüll entern wir die geheime Welt der Turiseder. Die fällt wirklich schwer in Worte zu fassen. Fakt ist, diese Welt ist einzigartig in Deutschland. 

Die Kids stürmen den Wasserspielplatz, ich steige fassungslos dem Öffentlichskeits- & Marketing Leiter Eugen Valtin hinterher. „Das sind alles Robinienstämme, auf denen wir laufen“ erklärt er mir. Es ist eine Art Baumwipfelpfad aus Holz, mit einem Baumhaus-Hotel in den Baumkronen. „Seit wir das eröffnet haben, immer ein Jahr im voraus ausverkauft“ schiebt er trocken hinterher. „Gleich im ersten Jahr haben wir zudem den Tourismuspreis dafür gewonnen.“ Ich stehe in einem der Baumhaus-Badezimmer in gut 8 Metern Höhe. Es ist eine Art Stahlkäfig mit Brause. Hier duscht man über den Baumkronen im Freien. 

Die Toilette daneben gleicht einem Jägerstand mit freiem Blick und garantiert immer frischer Luft. Eugen ist nicht zu bremsen, er führt mich durch Tunnelgänge, auf verwinkelte Dachterrassen mit kleinem Zoo und durch den Zauberwald. Ich habe nach kürzester Zeit die Orientierung verloren. „Du hast nur 40 % des ganzen Areals gesehen“ referiert er weiter und verschwindet hinter der nächsten Türe, die wieder zu einem „Geheimgang“ führt, welcher wieder auf eine weitere Brücke führt,.... – sie scheint nicht aufzuhören diese Kulturinsel Einsiedel.  Den Rest meiner Bootscrew habe ich längst verloren, ob ich sie hier je wiederfinde? 

„Verloren geht hier niemand, auch keine Kinder. Das ist alles sicher.“ beruhigt mich Eugen. Wir sind locker seit 3 Stunden unterwegs, als ich auf den Rest der Truppe treffe. Ein Blick auf die Kinder genügt: die Kleinen sind platt. Ohne Mittagsschlaf, verschwitzt, verschrammt, die Knie dreckig und die T-Shirts mit den Resten sämtlicher Mahlzeiten des Tages dekoriert. Aber auch wir Erwachsenen sehen leicht derangiert aus. Wir steigen ins Auto. Die Kinder schlafen schon beim Anschnallen ein. Es ist 17:30 Uhr.